Gefühle sind zum Fühlen da...
- Meike Parker
- 3. Nov.
- 4 Min. Lesezeit
Wenn Unterhaltung plötzlich weh tut

Mein Mann und ich hatten neulich eine dieser typischen Alltagsdiskussionen, die ganz harmlos beginnen – und dann plötzlich tief gehen: über Fremdschämen. Also dieses Gefühl, wenn du zusehen musst, wie jemand sehenden Auges ins (emotionale) Verderben rennt. Du weißt, was passieren wird, du willst schreien: „Tu’s nicht!“ – und kannst doch nichts tun.
Für viele ist das einfach unterhaltsam. Für mich ist es körperlich schmerzhaft.
Und ich weiß inzwischen: Damit bin ich nicht allein. Viele Menschen mit ADHS beschreiben genau dieses Phänomen.
Warum „Sex and the City“ nicht gut gealtert ist
Der Auslöser diesmal: Sex and the City.Eine Serie, die Ende der 90er als feministisches Statement galt – vier unabhängige Frauen in New York, die Karriere machen, Männer daten, offen über Sex reden. Das war damals revolutionär.
Heute aber sehe ich sie mit anderen Augen.Viele Szenen wirken aus heutiger Sicht zutiefst widersprüchlich: Freiheit ja, aber nur innerhalb eines Rahmens, in dem Erfolg über Designerlabels, Männer und gesellschaftliche Anerkennung definiert wird. Selbstbestimmung – aber nur, solange sie in High Heels und emotionaler Abhängigkeit funktioniert.
Als Frau Ende 40, die gelernt hat, wie viel von unserem Verhalten sozialisiert ist – dieses „sei lieb, sei gepflegt, pass dich an“ – sehe ich nicht mehr nur Glamour, sondern auch die Fesseln dahinter.
Der Moment, der weh tat
Für alle, die die Serie kennen: Carrie ist mit Aidan zusammen – liebevoll, verlässlich,

zugewandt. Und dann taucht Mr. Big wieder auf. Der ewige Magnet für Chaos und Unsicherheit. Carrie weiß, dass er ihr nicht guttun wird. Wir wissen es alle. Und sie macht es trotzdem.
Das ist der Moment, in dem ich abschalten muss.Nicht, weil ich sie verurteile, dass sie Aiden mit Mr. Big betrügt. Sondern, weil ich sie verstehe.
Ich spüre diese Szene mit jeder Faser. Die Ambivalenz, das Selbst-Sabotage-Gefühl, dieses innere „Ich weiß, dass es dumm ist – aber ich kann nicht anders.“ Ich war da. Viele von uns waren da. Und genau das macht es so schwer, zuzusehen.
Es ist keine moralische Empörung. Es ist Empathie mit Schmerz.Ich fühle, was sie fühlen wird – die Scham, die Reue, das Sich-selbst-verlieren.
Wenn Fremdschämen biochemisch wird
Was da passiert, ist neurobiologisch erklärbar. Viele Menschen mit ADHS haben ein hochsensibles Spiegelneuronensystem – also jene Nervenzellen, die Emotionen anderer in uns selbst aktivieren. Wenn jemand sich schämt, schämen wir uns mit. Wenn jemand weint, spüren wir den Kloß im eigenen Hals.
Forschung zeigt, dass Menschen mit ADHS oft intensiver auf emotionale Reize reagieren. Das bedeutet: Wir fühlen stärker – aber auch länger. Unsere Emotionsregulation hinkt manchmal hinterher, weil das Gehirn das Dopamin und Noradrenalin nicht schnell genug dämpft.Und so bleibt dieses „Aua-Gefühl“ einfach… da.
Die doppelte Dosis Scham

Ich glaube, Fremdschämen trifft uns auch deshalb besonders, weil wir selbst mit dem Gefühl aufgewachsen sind. Kinder mit ADHS hören laut einiger Schätzungen bis zu 20-mal mehr negative Kommentare (die Zahl ist nicht Wissenschaftlich belegt) als neurotypische Kinder.„Sei leiser!“, „Pass besser auf!“, „Mach’s ordentlich!“ – jede Ermahnung speichert unser Gehirn als Mikro-Scham.
Diese ständige Rückmeldung: „So wie du bist, bist du zu viel oder falsch“ wird zum Echo im Erwachsenenleben. Und wenn wir dann zusehen, wie jemand anderes sich blamiert, triggert das genau diese alten Spuren:unbewusste Scham-Resonanz.
Zwischen Empathie und Abgrenzung
Ich bin überzeugt: Unsere Empathie ist eine Stärke – aber nur, wenn wir lernen, sie zu dosieren. Empathie ohne Abgrenzung führt zu Mit-Leiden statt Mit-Fühlen.
Ich merke, dass ich mit Medikamenten meine Emotionen besser einordnen kann. Nicht, weil sie sie betäuben, sondern weil sie mir diesen winzigen Moment verschaffen, innezuhalten und zu sagen:„Okay, das ist gerade Carries Gefühl. Nicht meins.“
Regulieren statt wegdrücken
Trotzdem: Es gibt Momente, in denen selbst das nicht reicht. Dann hilft mir mein Mann – und zwar, indem er mich einfach festhält. Keine Worte, kein Ratschlag. Nur Druck, Nähe, Sicherheit. Das beruhigt mein Nervensystem auf die simpelste Art: über Oxytocin.
Andere Tools, die helfen:
Atmung: Box-Breathing (4 Sekunden ein, 4 halten, 4 aus).
Selbstberührung: Hand aufs Herz – dein Körper registriert das wie eine Umarmung.
Fazit: Emotionen sind zum Fühlen da
Wenn ich aus meiner Therapie eines mitgenommen habe, dann das: Gefühle sind zum
Fühlen da. Aber wir dürfen trotzdem lernen, ihre Intensität zu hinterfragen.
Fremdschämen, Wut, Überforderung – das alles sind Signale.Sie sagen uns etwas über unsere Werte, über unsere Empathie, über unsere Geschichte.Und manchmal ist es eben auch okay, den Fernseher einfach auszuschalten und zu sagen:„Das ist mir gerade zu viel.“
Fremdschämen ist kein Zeichen von Überempfindlichkeit. Aber wir dürfen auch abschalten, wenn’s zu viel wird.
Denn Selbstschutz ist kein Mangel an Mitgefühl – es ist emotionale Selbstfürsorge.
Und du?
Kennst du das auch? Serien oder Situationen, die du einfach nicht aushalten kannst?Schreib’s gern in die Kommentare – vielleicht entsteht ja daraus eine kleine Sammlung von „Trigger-Szenen“, über die wir gemeinsam lachen (oder lernen) können.




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